Bitte hab kein Mitleid mit mir, nur weil ich keinen Orgasmus bekommen kann
Eine junge Frau erzählt mir von ihrer Geschichte mit Anorgasmie..
Annika, 24 Jahre
Sie hat schon mit Depressionen gekämpft, als sie noch ein Kind war und bekam im Alter von 11 Jahren Antidepressiva. Eine Nebenwirkung dieser Medikamente ist es, unfähig zu sein, einen Orgasmus bekommen zu können. Das heißt, so lang Annika dieses Medikament nehmen muss, wird sie auch keinen Orgasmus bekommen können. Sie erzählt darüber, wie es ist, in einer Welt zu leben, in der die Leute davon ausgehen dass jeder Mensch einen Orgasmus bekommen kann, wenn man es nur oft genug versucht.
„Als ich ein Kind war, war ich ständig besorgt um alles. Ich wurde oft in der Schule gemobbt und je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es. Eines Tages, in der fünften Klasse, wurde das Mobbing meiner Mitschüler so schlimm, dass ich gerade anfing, in einer Ecke eines Klassenzimmers zu weinen und einen Brieföffner auf dem Lehrer-Schreibtisch fand. Ich habe nichts damit gemacht, aber ich hielt ihn fest und dachte daran, mir selbst zu schaden. Zum Glück kam dann ein Lehrer ins Klassenzimmer zurück und rief sofort die Krankenschwester, als er mich mit dem Bieröffner sah. Ab diesem Moment beschlossen meine Eltern, mich zu einem Psychologen zu bringen. Dieser diagnostizierter bei mir starke Depression. Ich bekam zwar einerseits therapeutische Unterstützung aber es war so schlimm, dass ich dann in der 6. Klasse zusätzlich Antidepressiva bekommen musste. Wenn ich nicht angefangen hätte, diese Medikamente in der sechsten Klasse zu nehmen, bin ich mir nicht sicher, ob ich jetzt noch hier wäre.
Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht mehr an sexuelle Aufklärung im Teenage Alter.
Alle meine Freunde waren eher „uncool“, also hatte ich keine Ahnung, ob meine Freunde Sex hatten und Masturbation war nichts, mit dem ich vertraut war. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass ich eines Tages einen festen Freund haben werde, mit dem dann alles von alleine passiert. Heute weiß ich natürlich, dass es ungewöhnlich ist, dass ein Mädchen im Teenage Alter keinerlei sexuelle Wünsche hat oder sich selbst erforscht.
Als ich dann 18 war, traf ich einen Kerl, der schon Ende 20 war und wir haben uns für ein paar Wochen miteinander getroffen. Eines Abends dann hatten wir Sex. Ich habe an ihn meine Jungfräulichkeit verloren. Es war natürlich überhaupt nicht schön, aber das erste Mal ist ja bekanntermaßen auch nicht wirklich schön, oder? Naja wir haben uns noch ein paar Monate weiterhin getroffen aber die Beziehung ging dann irgendwann in die Brüche.
Bei meinen nächsten Sex-Partnern bin ich dann auch irgendwann davon ausgegangen, dass ich keinen Orgasmus bekommen kann, weil ich beim Sex irgendetwas falsch mache. Also versuchte ich es mit einem Vibrator, kam aber damit auch zu nichts. Deshalb versuchte ich, mich auf mich selbst einzulassen und zu masturbieren – aber auch das funktionierte nicht. Wahrscheinlich wäre ich nie darauf gekommen, dass es auch an etwas anderem liegen kann als an mir, wenn ich nicht auf einen Aufsatz einer jungen Frau und ihren Erfahrungen von Antidepressiva mit der Nebenwirkung Anorgasmie gestoßen wäre.
Dieser Moment war wie das Lesen meines eigenen Tagebuchs und ich dachte mir, „okay es ist wirklich nicht meine Schuld, dass es so ist wie es ist!“
Nachdem ich jetzt endlich wusste, dass mein Körper einfach nicht in der Lage ist, einen Orgasmus zu bekommen, erzählte ich es meinen Sex-Partnern vor dem Sex: „Ich habe Anorgasmie und werde beim Sex bestimmt Spaß haben, aber ich werde zu keinem Höhepunkt kommen“. Tja und die Männer sagten ständig: „Oh glaub mir, ich werde dich bestimmt zum Orgasmus bekommen“. Fast alle Männer dachten, es wäre eine Herausforderung oder ein Spiel. Und manche hörten einfach nicht auf, weil ich keinen Orgasmus bekam, was mich ehrlich gesagt ziemlich sauer gemacht hat. Wenn man Anorgasmie hat und mit einem Mann schläft, der wirklich versucht, dir einen Orgasmus zu besorgen, dann fühlen sich diese Männer meist danach ziemlich schlecht. Und ich kann es ihnen auch nicht wirklich verübeln, weil sie sich wirklich darum bemühen.
Deshalb ging ich irgendwann zu meinem Arzt und fragte, ob ich das Medikament wechseln könnte, um dieses Problem zu beheben. Sie sagten mir, dass es leider keine Medikamente wie ich sie benötige gibt, die diese Nebenwirkung nicht auslösen. Es war mir aber so wichtig, einen Orgasmus zu bekommen, dass ich dennoch das Medikament wechselte und dies ziemlich schnell bereute. Ich bekam wieder Selbstmordgedanken und wechselte zurück zu meinem alten Medikament, wodurch es mir wieder besser ging.
Ich bekomme zwar immer noch keine Orgasmen aber ich genieße trotzdem alle Ebenen der Sexualität: ich habe sogar lebendige Sexträume, die wahrscheinlich ähnlich wie bei Anderen sind. Zwar ist es immer noch schwierig mit Männern zu schlafen, die Anorgasmie nicht ernst nehmen, aber mit meinen Freundinnen darüber zu sprechen ist deutlich schlimmer. Sie denken meist, dass ich nicht genug versuchen würde, um einen Orgasmus zu bekommen. Meine Freunde können mir einfach nicht glauben, dass ich keinen Orgasmus bekommen kann und behandeln mich meist wie eine medizinische Merkwürdigkeit.
Fremde Leute, mit denen ich darüber reden, versuchen es oft ernsthaft zu verstehen und bemitleiden mich, dass ich keinen Orgasmus haben kann. Sie behandeln mich dann oft, wie einen Problemfall und wollen mir sämtliche Möglichkeiten aufzählen, die ich in Erwägung ziehen sollte…
Ich hoffe manchmal, dass ich eines Tages in der Lage bin, die Medikamente zu wechseln, damit ich einen Orgasmus haben kann. Aber dennoch ist das Risiko, dass ich dann wieder Selbstmordgedanken bekomme so hoch, dass ich es natürlich nicht eingehen möchte. Wenn man weiß, dass man Anorgasmie hat und man keinen Orgasmus bekommen kann, muss man es nicht zwingend als Problem sehen. Sex kann auch ohne Orgasmus Spaß machen und muss nicht zwingend eine zielorientierte Sache sein. Ich genieße auch ohne Orgasmus die körperliche Freude und die emotionale Erfüllung, die ich durch Sex bekomme. Natürlich ist das alles nicht vergleichbar mit einem Orgasmus, aber lieber lebe ich und habe keinen Orgasmus als umgekehrt.“